9

Es schienen hauptsächlich willkürliche Ansammlungen von Buchstaben zu sein. Wild zusammengewürfelte Buchstaben. Und besonders ähnlich waren sie nicht. ›Epivu‹, dachte Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin. War das auch eine willkürliche Ansammlung von Buchstaben?

Er saß in seinem ziemlich kargen Büro, während vor dem Fenster der Regen niederging. In dem wenig inspirierenden, rasch blinkenden Licht einer Leuchtstoffröhre, die im Begriff stand, den Geist aufzugeben, betrachtete er drei Zettel. Es war halb acht, es war Freitagabend, und allem Anschein nach war er allein auf den Fluren der A-Gruppe in dem Teil des Polizeipräsidiums in der Polhemsgata, in dem die Reichskriminalpolizei untergebracht war.

Es war anscheinend eine slawische Sprache. Trotz der Ungleichheiten und trotz der eigenartigen Schreibweisen fand Hultin, daß es russisch klang. Das hatten Nyberg und Norlander auch gemeint. Was für slawische Sprachen gab es außer Russisch? Tschechisch, Bulgarisch, Serbokroatisch? War Serbokroatisch noch immer eine Sprache? Oder gab es jetzt Serbisch einerseits und Kroatisch anderseits? Er war nicht sicher.

Ein Sprachexperte mußte hinzugezogen werden. Der war nicht zu beneiden.

Erstaunlich geistesgegenwärtig von Gunnar Nyberg übrigens. Aber er war schließlich als Polizist von Klarheit zu Klarheit gegangen, seit Hultin vor Gott weiß wie vielen Jahren die A-Gruppe zusammengestellt hatte, um den Fall mit den Machtmorden zu lösen. Von einem schwerfälligen Grizzlybären auf Menschenjagd in der Unterwelt zu einem modernen, klar denkenden, abgeschlankten Internetbullen.

Hultin griff zu einem neuen Papier. Protokoll des Verhörs mit Adib Tamir. Er las diagonal. Gutaussehende Frau, allein, mittelgroß, langes schwarzes Haar, rote Lederjacke, enge schwarze Hosen, schwarze Joggingschuhe. Eine Gang ›Kleinfuzzis‹ war dabei. Unbekannte Möchtegerns. Sie waren abgehauen. Zuerst trat sie einen messerbewaffneten Hamid nieder. Tritt ins Gesicht. Dann beförderte sie einen ebenso messerbewaffneten Adib mit dem Kopf voraus an eine Bank. Er war weggetreten. Als er zu sich kam, war alles voller Menschen, die schrien. Er sah Hamids Beine und Gedärme ein paar Meter entfernt auf dem Bahnsteig liegen und fiel gleich wieder in Ohnmacht. Als er wieder aufwachte, war der Bahnsteig leer, bis auf ein paar Bullen. Das war alles. Er hatte keine Ahnung, wer die kleinen Fuzzis waren. Solche, die sich anhängten. Die gab es immer. Die Profis waren Hamid und er. Klar könnte er versuchen, bei einer Zeichnung zu helfen, aber er hatte sie kaum gesehen. Sie hatte ihnen den Rücken zugewandt, bis sie sich umdrehte und die Unbezwingbaren in ein paar erbärmlichen Sekunden bezwang.

Schlußwort: »Sie muß Geheimagentin gewesen sein, oder so.«

Ja du, Adib, dachte Hultin. Wer weiß? Sie nahm jedenfalls einen messerbewaffneten Hamid an den Beinen, schob ihn wie eine Schubkarre vor sich her über den Bahnsteig, ließ den halben Körper über die Bahnsteigkante hinausragen, gerade als die U-Bahn einfuhr. Dann verschwand sie spurlos. Mit roter Lederjacke und allem.

Aber das Handy blieb in Hamids Hand zurück. So etwas würde einem geschulten KGB-Agenten wohl nicht passieren.

Näherten sich die Ereignisse der letzten Tage einander an? Begann eine Art Zusammenhang hervorzutreten?

Adib Tamir hatte auf jeden Fall Fotos der acht Frauen ansehen müssen, die aus der Flüchtlingsunterkunft verschwunden waren: Galina Stenina, Valentina Dontsjenko, Lina Kostenko, Stefka Dafovska, Mariya Bagrjana, Natalja Vaganova, Tatjana Skoblikova und Svetlana Petruseva.

Adib hatte den Kopf geschüttelt. »Nein«, hatte er gesagt.

»Nein, überhaupt nicht.«

›Überhaupt nicht‹? Was bedeutete das? Hultin breitete die Paßfotos von acht Frauengesichtern vor sich auf dem Schreibtisch aus und betrachtete sie eingehend. Doch, räumte er ein. Er verstand, was Adibs ›überhaupt nicht‹ bedeutete. Diese Frauen sahen fertig aus. Ihr Blick war erloschen. Es war kein Leben in ihnen. Keine von ihnen war über fünfundzwanzig Jahre alt, aber alle sahen bedeutend älter aus. Das Leben war hart mit ihnen umgesprungen, das konnte man sehen. Wahrscheinlich waren sie seit ihren Teenagerjahren Prostituierte, wie die übrigen osteuropäischen Prostituierten, die Schweden und Westeuropa überschwemmten. Eine fürchterliche Flutwelle von Frauenerniedrigung schwappte über Europa, und der Westen war aktiv daran beteiligt.

Für einen kurzen Moment empfand Jan-Olov Hultin Übelkeit. Über sein Geschlecht. Über seine Herkunft. Über sein so wohlbehütetes Leben.

Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Den Technikern zufolge sollte es nicht unmöglich sein, das Abo des Mobiltelefons ausfindig zu machen. Die SIM-Karte lag vor. Das Abo war zwar nicht schwedisch, doch das sollte kein Hindernis sein. Und danach sollte man eine vollständige Liste der eingegangenen wie abgegangenen Gespräche bekommen können.

Darauf war er gespannt.

Bis dahin konnte er Puzzle legen. Die Stücke hatte er vor sich. Die Frage war nur, ob sie zusammengehörten.

In gut vierundzwanzig Stunden war viel geschehen. Anderseits wurden während eines Tages im Königreich Schweden eine ganze Menge Verbrechen begangen. Es war also keineswegs sicher, daß die drei Ereignisse irgendwie zueinander in Beziehung standen.

Genaugenommen war vielleicht überhaupt kein Verbrechen begangen worden. Die Frauen waren vielleicht ganz einfach aus dem Norrboda-Motel abgehauen; das hätte er selbst wahrscheinlich auch getan, wenn er dort in Verwahrung gesessen hätte. Der Skansenmann war vielleicht nur vor den Dämonen seines Drogenrauschs geflohen; nicht einmal das neu entdeckte Loch im Zaun mußte mit der Sache zu tun haben. Und sogar bei dem U-Bahn-Vorfall konnte es sich um reine Selbstverteidigung handeln.

Keines der Ereignisse mußte das geringste mit den anderen zu tun haben.

Doch bekanntlich kann der Wille Berge versetzen.

Also legte Jan-Olov Hultin ein Puzzle.

Zuallererst: Warum hing es zusammen? Die geballte Routine und Scharfsicht der A-Gruppe sagte – so gut wie einhellig –, daß es so war. Kerstin legte sich zwar via Jorge ein bißchen mit Paul an, doch dabei drehte es sich um irgendein privates Spiel, von dem Hultin nichts wissen wollte. Ihm fehlte nämlich Neugier. Verwunderung konnte er empfinden, Wißbegier, Erfahrungsdrang – doch nicht Neugier. Solange das Private sich nicht auf die Arbeit auswirkte, hielt er sich heraus. Er hatte ja inzwischen sogar ein verheiratetes Paar im Team, und es funktionierte besser, als man gemeinhin annahm. Hultin hatte nicht viel übrig für das Aufstellen strikter Regeln und Direktiven. Sollte Mörner sich mit so etwas abgeben. Es nahm ja doch niemand Notiz davon.

Er begann noch einmal von vorn: Warum hing es zusammen? Weil von dem Ganzen der Geruch internationalen Verbrechens ausging – am schwedischsten waren noch Hamid und Adib. Weil es in so schneller Folge geschehen war – eineinhalb Tage. Weil nichts richtig normal war – Vielfraßmord, Dirnenflucht, gewalttätige Frau.

Am Mittwoch, dem dritten Mai, um Viertel nach zehn am Abend, wird ein Mann, wahrscheinlich eine relativ große Nummer im internationalen Verbrechen, zu den Wölfen nach Skansen hineingejagt; der Wert seiner Goldkette wird auf beinah dreihunderttausend Kronen geschätzt. Die Tatsache, daß sich seine Verfolger einen bedeutend kürzeren Weg durch den Zaun zum Wolfsgehege schneiden, läßt auf sorgfältige Planung schließen. Man treibt ihn zu den Wölfen. Man rechnet damit, daß er über den Zaun klettert und auf der anderen Seite der Wolfsgrube wieder herauskommt. Man hat sich etwas ausgedacht, was dort auf ihn wartet. Also hat man es wahrscheinlich auf die Vielfraße abgesehen. Allem Anschein nach ist die Tat bis ins Detail geplant – und das Opfer reagiert genau wie vorhergesehen. Es fragt sich, ob man sogar darauf spekuliert hat, daß die Vielfraße durch das Kokain im Blut einen Kick bekommen. Falls das zutrifft, wäre es richtig raffiniert ausgedacht.

Anscheinend kennt man seinen Ellroy.

Am Donnerstag, dem vierten Mai, irgendwann nach halb drei am Morgen, verschwinden acht Prostituierte aus Osteuropa aus dem Nebengebäude einer Flüchtlingsunterkunft. Dies geschieht also einige Stunden später in derselben Nacht. Wie sieht die eventuelle Verbindung aus? Sara Svenhagen ist der Sache wohl trotz allem am nächsten gekommen – als ein gewisser Kommissar eine Attacke gegen ihre ›vagen Ahnungen‹ ritt. Wenn es eine Verbindung gab – und dies erschien ihm immer noch als das schwächste Glied in der Kette –, dann mußte es sich um eine von zwei Möglichkeiten handeln. Eins: Der Skansenmann war ihr Beschützer, und als er aus dem Weg geräumt war, wurden sie gekidnappt oder, schlimmstenfalls, ermordet. Zwei: Der Skansenmann war eine Bedrohung, die beseitigt wurde, und jetzt bekamen die Frauen endlich ihre Freiheit. In beiden Fällen dürfte er ihr Zuhälter gewesen sein, entweder ein guter oder ein schlechter. Und gute Zuhälter waren nicht gerade der Normalfall …

Hultin durchwühlte die Abschriften der Verhöre von Slagsta. Wie ein guter postindustrieller Arbeitgeber zählte er sie. Norlander zwei, Nyberg vier, Svenhagen sieben und Holm – zwölf. Okay, Norlander und Nyberg waren ein paar Stunden früher weggefahren, aber der Unterschied zwischen zwölf und zwei war dennoch markant. Außerdem gab es noch eine Anzahl Protokolle von den Damen vom Vortag. Insgesamt waren es an die dreißig Papierhäufchen.

Glücklicherweise hatte Kerstin Holm die Lage in einem separaten Promemoria vor dem Wochenende zusammengefaßt. Für den Fall, daß er jemals – gegen jede Wahrscheinlichkeit – in Pension ging, zeichnete sie sich immer klarer als seine natürliche Nachfolgerin ab. Sie hätte eigentlich schon längst Kommissarin sein sollen. Aber das hätten auch Hjelm, Söderstedt, Chavez, Nyberg sein müssen, ja, alle, bis auf Norlander, dachte er ein bißchen boshaft.

Zwei mickrige Verhöre.

Er faßte Kerstins Zusammenfassung zusammen. Leider konnte niemand in Slagsta sich an einen Mann mit dicker Goldkette und hellrosa Anzug erinnern. Dagegen wurde zunehmend klarer, daß vor einer knappen Woche etwas passiert sein mußte. Mehrere der äußerst widerspenstigen Freier hatten bezeugt, daß bei sämtlichen acht Frauen ein auffälliger Stimmungswechsel zu beobachten gewesen sei. Sie wirkten tief beunruhigt, wollten jedoch auf Fragen keine Antwort geben. »Sie hat gefickt wie eine verdammte Maschine«, wie ein gewohnheitsmäßig Sexmißbrauch treibender Wachmann aus dem Nachbarviertel in Slagsta über Mariya Bagrjana sagte.

Feine Formulierung.

Ein paar Nachbarn hatten sich an das Geräusch eines großen Fahrzeugs früh am Donnerstag morgen erinnert.

»Es hörte sich an wie das Müllauto«, sagte eine alte Dame mit dem eigentümlichen Namen Elin Belin, »aber warum sollten sie schon um halb vier den Müll abholen?« Der andere Nachbar, ein arbeitsloser Schlachter, der laut eigener Aussage »im letzten halben Jahr nicht mehr als sechs Stunden geschlafen« hatte, sagte aus, es sei kurz vor vier gewesen, als er etwas gehört habe, was klang »wie ein SL-Bus auf Abwegen, denn hier fährt kein einziger vernünftiger Nachtbus, und Sie als behördliche Person können vielleicht meine Beschwerde bei der Verwaltung von SL vorbringen«. Dies stammte aus Viggo Norlanders mickrigem Anteil an den Verhören, was ziemlich seltsam war, denn wer hätte Viggo Norlander für eine »behördliche Person« halten können?

Die wichtigste Information stammte jedoch von Jörgen Nilsson, dem Heimleiter. Nachdem er ein wenig unter Druck gesetzt worden war – Kerstin war offenbar etwas unsanft mit ihm umgesprungen –, gab er zu, einen Zuhälter zu kennen. Schon im November hatte ein Mann Kontakt zu ihm aufgenommen, um sich zu vergewissern, daß er sich nicht in das in der Unterkunft betriebene Geschäft einmischen würde; ihm wurde freier Zugang zu den Zimmern 224 bis 227 angeboten, wenn er dafür den Mund hielt. Augenscheinlich hatte Nilsson diesen freien Zugang über Gebühr ausgenutzt. »Stammkunde«, wie ein empörter somalischer Zahnarzt in Zimmer 220 sagte, nachdem er sich von seinem Gebetsteppich erhoben hatte. Schließlich war es Holm gelungen, Nilsson zum Polizeizeichner zu verfrachten, der ein gutes altes Phantombild zusammenstellte. Morgen sollte es durch alle erdenklichen Register gefahren werden. Doch dieser Phantomzuhälter war allem Anschein nach nicht identisch mit dem Vielfraßmann.

Ein Schrillen des Telefons jagte ihm nicht nur einen Schrecken ein, der sein Herz aussetzen ließ, es erinnerte ihn auch daran, daß seine Argumentation falsch war. Dies war trotz allem nicht die wichtigste Information.

»Ich dachte mir schon, daß du noch da bist«, grunzte eine barsche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Du ja offenbar auch, Brunte«, sagte Hultin, während sein Herz sich wieder beruhigte.

»Ich heiße nicht Brunte«, sagte Chefkriminaltechniker Brynolf Svenhagen mit Nachdruck. »Ist es mein ungehobelter Schwiegersohn, der solchen Mist verbreitet?«

»Normalerweise sind es Pferde, die Mist verbreiten«, entfuhr es Hultin.

Eine Weile war es still im Hörer. Svenhagen suchte anscheinend nach einem schlagfertigen Kommentar. Da schlagfertige Kommentare aber nicht die starke Seite des strikten Technokraten waren, herrschte vorübergehend Schweigen.

Ein vielsagendes Schweigen, dachte Hultin.

Schließlich sagte der Chefkriminaltechniker, wenig schlagfertig: »Also willst du nun diese Information haben oder nicht? Ich habe wie ein Büffel geackert, um sie noch fertig zu kriegen. Es ist immerhin Freitag abend.«

»Ich will sie gern haben«, sagte Hultin und goß damit Öl auf die Wogen. »Danke«, fügte er sogar noch hinzu.

Das reichte, um Svenhagen zu besänftigen. Er schoß aus der Hüfte:

»Ich habe eine vollständige Liste aller aus- und eingehenden Telefongespräche, die von den Zimmern 224, 225, 226 und 227 im Norrboda-Motel in Slagsta geführt worden sind. Könnte das von Interesse sein?«

Obwohl es von allerhöchstem Interesse war, wurde Hultin eher wütend als überglücklich. Er hatte die Telefone in den vier Motelzimmern ganz einfach vergessen. Hatte er die Dinge nicht mehr im Griff? Waren diese Zeitlöcher doch alarmierender, als er für sich beschlossen hatte? War es ein Gerinnsel, das sich unaufhaltsam einem viel zu engen Blutgefäß im Gehirn näherte?

»Bist du noch dran, Jan-Olov?« fragte Brynolf Svenhagen besorgt.

»Ja«, sagte Hultin und riß sich zusammen: »Ausgezeichnet, Brynolf. Kannst du sie rüberfaxen?«

»Sie sitzen schon im Fax«, gab Svenhagen selbstzufrieden zurück.

Während er darauf wartete, daß sich das Faxgerät in Gang setzte, betrachtete Hultin seine Armbanduhr. Es war dreizehn nach acht. Bald waren exakt zwölf Stunden vergangen, seit das Zeitloch das Raum-Zeit-Kontinuum gelockert hatte. »Acht Uhr, sechzehn Minuten und zehn Sekunden. Piep.«

Vielleicht befand er sich bereits mitten in der Zeitlücke.

Das Faxgerät ratterte los und rief den guten Kommissar in die Wirklichkeit zurück. Obwohl er mit dem Begriff nicht richtig zufrieden war.

Die Wirklichkeit …

Hultin sah auf das hervorquellende Fax und fragte sich, ob es wirklich die Wirklichkeit war, in der er sich befand. Eine gute Weile starrte er auf das sich in Wellen ablagernde Papier. Krrr-krrr-krrr-prritt. Der Haufen wuchs. Die Zeit verschwand in hypnotischer Monotonie. Krrr-krrr-krrrprritt. Krrr-krrr-krrr-prritt. Krrr-krrr-krrr-prritt. Ein Augenpaar starrte ihn aus der Dunkelheit an. Er zuckte ungewöhnlich heftig zusammen und warf einen Blick aufs Handgelenk. Die Uhr zeigte drei nach halb neun – die gleiche Zeit wie heute morgen, als es eigentlich sechzehn Minuten nach acht war. ›Herr Gott‹, dachte er. ›Es geschieht wirklich.‹

Paul Hjelm stand in seinem viel zu dünnen Leinenjackett da, hielt einen Schirm mit Polizeilogo in der Hand und hatte Hörstöpsel in den Ohren. Seine zum Abschiedsgruß erhobene Hand sank unsicher durch die Raumzeit.

»Aber was ist denn?« brüllte er.

»Schrei nicht so«, sagte Jan-Olov Hultin und starrte auf seine Armbanduhr. Der Sekundenzeiger tickte, aber war er nicht ungewöhnlich schnell? Was tat Paul hier? War es plötzlich Morgen geworden? War es schon Zeit für die Vormittagsbesprechung in der Kampfleitzentrale? War er zwölf Stunden lang in einem schwarzen Loch in der Zeit unterwegs gewesen?

»Entschuldigung«, sagte Hjelm und zog die Hörstöpsel aus den Ohren. »Kind of Blue. Miles Davis.«

»Um Musik zu hören, ist die Freizeit da«, sagte Jan-Olov Hultin verwirrt.

Paul Hjelm musterte ihn ziemlich eindringlich. »Mit dir stimmt was nicht, Jan-Olov«, sagte er schließlich.

»Was tust du hier um diese … Tageszeit?«

»Ich wollte gerade nach Hause gehen. Ich habe mir das ganze Material noch einmal angesehen, und ich fresse einen Besen, wenn es nicht zusammenhängt. Aber was machst du hier?«

Hultin saß ganz still. Er strich mit der Hand über die Schreibtischkante. Doch, dachte er, dies ist die Wirklichkeit. Dies ist Materie, die ich fühlen kann. Raum ist nicht Zeit. Ich befinde mich in der Zeit auf eine andere Weise, als ich mich im Raum befinde. Ich bin hier, und ich bin jetzt. Scheiß auf den Rest. Dann wandte er sich zum Faxgerät um. Ein letztes krrr-krrr-krrr-prritt, und der Haufen war komplett. Er nahm ihn, glättete die Seiten auf dem Schreibtisch und sagte energisch: »Gravitationelle Zeitdilatation. Solltest du mal ausprobieren. Das gibt dem Dasein Perspektive.«

Hjelm fiel die Kinnlade herunter. Es war sehr unterhaltend.

»Wo ist das Handy von der U-Bahn?« fragte Hultin scharf.

»In meinem Zimmer«, erwiderte Hjelm eingeschüchtert.

»Was tut es da? Warum ist es nicht bei der Spurensicherung?«

»Ich habe es mir ausgeliehen, als sie ins Wochenende gegangen sind. Ich wollte es mir ein bißchen näher ansehen.«

»Ausgezeichnet«, sagte Hultin. »Hol es her.«

»Keine anderen Fingerabdrücke außer denen von Hamid al-Jabiris, offenbar. Wie schafft man es, an seinem eigenen Handy keine Fingerabdrücke zu hinterlassen?«

»Hol es her«, wiederholte Hultin.

Als Hjelm verschwunden war, sah er rasch den Papierwust durch, den das Faxgerät ausgespuckt hatte. Er fand unmittelbar das, wovon er wußte, daß er es finden würde.

Hjelm trat mit dem Handy ins Zimmer.

»Leg es auf den Schreibtisch«, sagte Hultin mit dem Telefonhörer in der Hand. Er wählte eine Nummer.

Das Handy auf dem Schreibtisch klingelte.

Es kam ihm nicht überraschend vor.

»Jetzt«, sagte Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin, »jetzt ist das hier ein Fall.«

Tiefer Schmerz
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